Lillis mutiger Ausflug zum Rummel
„Körner!“, beschwert sich Lilli. „Immer nur trockene Körner!“ Empört pickt die weiße Henne auf die grünen Gummistiefel von Tom, der gerade seine Hühner füttert. „Komm, die sind lecker und gehaltvoll!“ Lillis Freundin Helga, das braune Huhn, versucht, sie zu beruhigen. „Da kannst du wirklich nicht meckern!“, meint auch Franzi, die Dritte im Stall. Aber Lilli pickt nur widerwillig mit. Seit sie nebenan bei den Kahlkes die bunte Lichterkette zwischen den schlanken Birken entdeckt hat, ahnt sie, dass die Welt größer ist als Toms Garten. Deshalb flattert sie nach der Fütterung auf einen erhöhten Baumstamm und schaut wie gebannt über den Zaun. Zwischen den bunten Lämpchen glitzert ein großer Stern. Jetzt bekommt Lilli richtig Fernweh! Neugierig macht sie ein paar Hüpfer durch das raschelnde Laub. Ganz hinten im Garten kommt sie zum kleinen Tor. Zaghaft schiebt sie es ein wenig nach vorne. Es knarzt. Vorsichtig setzt sie eine Kralle nach der anderen auf den dunklen Waldboden. Wie weich er ist! Dann hört sie von Weitem Töne, die langsam in ihren Ohren zu einer verführerischen Melodie werden. Und bevor Lilli darüber nachdenken kann, heben ihre Füße sich wie von selbst vom Boden ab und sie tanzt einen schwerelosen Tanz. Musik ist doch was Schönes, denkt sich Lilli. Plötzlich hat sie das Gefühl, zu schweben …
„Lilli! Was machst du da?“
Lilli erschrickt. Huch! Sie ist ja ganz weit oben auf der Spitze von Kahlkes Tanne gelandet! Und unten stehen Helga und Franzi, ganz klein, ihre Flügel und Hälse in die Höhe gereckt.
Furchtlos schaut Lilli nach vorne und breitet mutig ihre Flügel aus. „Du kannst nicht fliegen!“, ruft Helga. Da meldet sich auch Franzi. „Denk an den Hüh-ner-fän-ger!“ Kurz hat Lilli ein bisschen Angst. Schon oft haben ihre beiden Freundinnen die gruselige Geschichte vom großen Mann mit der dunklen Sonnenbrille erzählt. Auf offener Straße würde er Hühner einsammeln. Diese dann verkaufen! Man wisse nicht, was aus ihnen werde … Aber Lilli dreht ihren Schnabel in den Wind, wiegt sich auf dem Tannenzweig und bringt die Spitze des Baums zum Schwingen. Und dann – ein Sprung. Sie schließt ihre Augen. Und – wie ein Pfeil, der sich vom Bogen löst – wird sie nach oben in die Lüfte katapultiert! Sie fliegt! Und vor ihr liegt eine tolle, glitzernde Straße mit lauter Buden und Karussells. Sie gleitet geradewegs darauf zu. Aber was ist das? Da schwebt ein kleiner, dicker Engel vor ihr und schaut Lilli direkt in die Augen. Er ruft ihr etwas zu. Eine Warnung? Ist die paradiesische Milchstraße etwa der Eingang zu Tod und Hühnersuppe? Kurz sieht sie ihre Federn davonschwimmen und sich im großen, festlichen Kupfertopf enden … Da prallt sie hart und schmerzvoll gegen den Engel und bleibt reglos am Boden liegen. Ihr Kopf dröhnt.
Lilli ist gegen eine Engelsstatue gefallen und liegt jetz direkt am Eingang des Haddebyer Rummels. Sie reibt sich mit dem Flügel den Kopf. Über ihr kreist ein Karussell, das an dünnen Bändern zu hängen scheint. Ein Stück weiter riecht es lecker nach Pfannkuchen. Sie spaziert über den Rummel. Vor einem großen Karussell bleibt sie stehen. Heimlich springt sie in eine grüne Gondel. Das Karussell setzt zur ersten Runde an, dreht sich immer schneller und ruckelt auf und ab. Kurz meint Lilli, aus dem Augenwinkel auf dem Sitz vor ihr eine dicke Sonnenbrille aufblitzen zu sehen … Aber schon dreht sich alles wieder, und das Kribbeln in Lillis Bauch wird stärker. Sie kiekst, lacht, juchzt und seufzt. Wenn Helga und Franzi nur wüssten! Nach der aufregenden Fahrt schlendert sie selig weiter über den Rummel. Ein Mann mit dicker Sonnenbrille geht hinter ihr her. Aber Lilli bemerkt ihn nicht. Denn schon zieht ein großes Haus mit hohen Glasscheiben sie in ihren Bann. Ein Labyrinth aus Spiegeln und Glasscheiben! Das will sich Lilli nicht entgehen lassen. Frech marschiert sie unterhalb der Absperrung einfach an der Kasse vorbei in den ersten Gang hinein. Schon bald kommt sie an eine Kreuzung. Nach links oder nach rechts? Bald kommt sie zu einem Spiegel und muss umdrehen. Lilli hüpft weiter. Biegt ab. Rennt gegen eine Glasscheibe. Aua! Als sie sich umdreht, entdeckt sie den großen Mann mit der Sonnenbrille. Lilli zischt nach rechts. Sackgasse! Mit einem gekonnten Hüpfer macht sie kehrt. Da steht er wieder. Blitzschnell rast Lilli zwischen seinen schweren Stiefeln durch. Da zischt es hinter ihr: „Du dummes Suppenhuhn, du!“ Lilly erstarrt. Kein Zweifel. Es ist der Hühnerfänger! Sie wird verfolgt! Hätte sie doch nur auf Helga und Franzi gehört! Sie sprintet weiter. An der nächsten Kreuzung holt er sie fast ein. Schnell entwischt sie durch einen schmalen Spalt. Uff. Aber schon schiebt sich der schwere Stiefel durch die Tür. Vor Schreck lässt Lilli ein Ei fallen. Der Hühnerfänger tritt direkt darauf. Fast wäre er ausgerutscht!
Ha! Das ist doch die Lösung, denkt sich Lilli! Vier Eier hat sie noch. Wie der Blitz zischt sie los. Ganz flink legt sie das nächste Ei auf die Kreuzung. Wieder gerät der böse Hühnerfänger ins Schlingern. Zack, weiter. Ein Spiegel. Ein Ei. Bämm! Jetzt knallt er mit seinem Kopf gegen eine Scheibe. Beim dritten Ei ist es so weit. Seine Schuhe bleiben am Eiweiß kleben. Er verliert sein Gleichgewicht. Lilli gewinnt an Fahrt. Aber für das vierte Ei braucht sie länger. Sie ist aus der Puste. Hockt sich hin. Drückt. Hört Schritte. Plopp! Endlich. Da liegt es. Groß und braun. Frisch und lecker. Ein absolut schönes, dickes Ei. Sie rast weiter. Ihre Flügel flattern, ein paar Federn blieben liegen. Der Hühnerfänger poltert. „Du dummes Huhn! Du findest doch niemals den Ausgang!“ Da passiert es. Knacks. Ihr schönes Ei verwandelt sich in eine riesige Eidotter-Lache. Der Hühnerfänger rutscht aus. Seine Beine machen eine Grätsche, seine Hände rutschen am Spiegel ab und die Sonnenbrille landet auf dem Boden, wo sie in tausend Stücke zerbricht. Durch eine Scheibe sieht Lilli zwei Kinder, die zum Ausgang zeigen. Lilli braust davon, halb fliegend, halb rennend. Als sie endlich aus dem Labyrinth gefunden hat, schnauft sie. „Der Hühnerfänger hat sich voll hingelegt!“, rufen die beiden Kinder. Tatsächlich. Durch die Scheibe schaut er böse er zu ihr rüber. Lilli schaut böse zurück. Der wird sich hüten, sie noch einmal anzugreifen! Die Kinder halten ihr eine Tüte hin, aus der es de-li-ziös riecht. Sie pickt hinein. Schnuppert und knabbert. Hmmm, ist das weich auf ihre Zunge. Und so süß im Mund. Lilli schnabuliert noch einmal. Gestärkt marschiert sie nach Hause. Mit ein paar Happen für ihre Freundinnen unter ihren Flügeln. Das war ja mal ein echtes Abenteuer. Nächstes Mal müssen Helga und Franzi auf jeden Fall mitkommen!